Tanzprojekt 2013
Sich tanzend begegnen
Eine Woche lang trafen sich über 20 hörgeschädigte und hörende Jugendliche auf Einladung der Dresdner Semperoper und des Sächsischen Cochlear Implant Centrums (SCIC) zu einem gemeinsamen Tanzworkshop.
Ein
kalter Freitagmorgen Anfang April. Sonne zeigt sich zaghaft. Und auf dem Weg
durch die Dresdner City scheint die Stadt noch verschlafen. Es sind Osterferien
in Sachsen. Und deshalb steht auch das alte Schulgebäude der Mittelschule „Gottlieb
Traugott Bienert“ in der Nöthnitzer Straße verlassen und leer. Nur in der
benachbarten Turnhalle brennt das Licht. Und wer das Gebäude betritt, die Tür
zum hellen Saal öffnet, der ist dem geruhsamen Dresdner Morgen endgültig
entkommen:
“I like
to move it, move it”, dröhnt es aus einem großen Ghetto-Bluster in die Weite
des Sportsaals. Stampfender Rhythmus füllt den Raum. Und die mehr als 20 Tänzer, die im weiten Rund Aufstellung genommen haben, greifen den Rhythmus
auf, federn im Takt, wippen in den Hüften, drehen sich nach links, nach rechts,
klatschen, wieder nach links, lassen ihre Arme in weiten Bögen kreisen, rennen
wie wild auf der Stelle, sind Schnellläufer, flitzende Comic-Helden, dann
wieder ungelenke Puppen. Sie folgen mit ihren Bewegungen denen der Vortänzerin,
die jeden Wechsel, jede neue Übung mit einem kurzen Kommando ankündigt, bis die
Aufwärmrunde zu Ende ist.
Wir sind zu Gast beim mittlerweile
dritten Projekt, das die „Junge Szene“ der Semperoper Dresden gemeinsam mit dem
Sächsischen Cochlear Implant Centrum (SCIC) des Universitätsklinikums Dresden
für hörgeschädigte und hörende Kinder und Jugendliche ausrichtet. – „Nach zwei
Theater-Projekten wollten wir diesmal einen Tanzworkshop machen“, so Theaterpädagoge
und Projekt-Leiter Jan-Bart De Clercq von der Semperoper. „14 hörgeschädigte
und acht hörende Jugendliche im Alter von 12 bis 20 Jahren arbeiten daran mit,
entdecken fünf Tage lang die Möglichkeiten, die ihnen Tanz und Theater, Körper
und Bewegung für den eigenen künstlerischen Ausdruck bieten.“ – „Bei der
Umsetzung des Projektes unterstützt uns zudem die Palucca Hochschule für Tanz“,
ergänzt Mitorganisatorin Dominique Müller, Sprachtherapeutin des SCIC. „Die
beiden Tanzpädagogik-Studentinnen Tabea Weinigk und Franziska Kusebauch haben
das Konzept für den Workshop entwickelt, und sie arbeiten mit uns gemeinsam an
dessen Umsetzung.“
Dresden, Freiburg, Erfurt, Hannover… - fast aus dem ganzen Bundesgebiet sind Teilnehmer zum Workshop gekommen. Der überwiegende Teil der Jugendlichen trägt Cochlea-Implantate. In der Werkstattwoche wohnen alle gemeinsam in einer Jugendherberge. Auch der Besuch einer Opern-Aufführung und einer öffentlichen Ballett-Probe in Dresdens berühmtem Opernhaus gehören zum Programm. Die Finanzierung der Projekt-Woche wurde durch ein Sponsoring von Cochlear Deutschland ermöglicht.
Hörende und hörgeschädigte Jugendliche finden über die Bewegung in einen gemeinsamen Dialog.
„Thema des Workshops ist Kommunikation“,
erläutert Theaterpädagoge De Clercq. „Wir haben gemeinsam überlegt, was dieses
Wort bedeutet. Wir haben die Medien, das Theater und den Tanz betrachtet, und
uns gefragt, wo und wie Kommunikation überall stattfindet. Und was man daraus
künstlerisch machen kann – mit Sprache und ohne Sprache. Auch Bewegung und Tanz
sind Kommunikation. Hörende und schwerhörige Jugendliche können über die
Bewegung in einen gemeinsamen Dialog treten, sich neu begegnen und voneinander
profitieren.“
Keine ausgetüftelten
Choreografien, kein andressierter Gleichschritt und auch kein vorgegebenes
Ballettstück, das umzusetzen wäre. - Dafür ein gemeinsamer Rhythmus, Freude an
der Musik, das Zusammenspiel freier Bewegungen, Spaß an der Improvisation, sich
ausprobieren, Möglichkeiten des eigenen körperlichen Ausdrucks entdecken,
vielleicht auch Grenzen überschreiten. Anna, Maren, Richard, Lea, Kim, Lissy
und die anderen folgen aufmerksam den Pädagogen, die leidenschaftlich bei der
Sache sind.
Sitzen, knien, liegen, stehen. Hin und her laufen, auf einen Punkt starren oder sich am Hinterkopf kratzen… - Die Teilnehmer werden angehalten, jedes kleine Detail wertzuschätzen, jede Geste wirken zu lassen, ihr Raum zu geben. Im Zusammenspiel der Tänzer fügen sich die Bewegungen zu Situationen; und aus Situationen entstehen kleine Geschichten. – „Wir wollen Tanz und Theater so miteinander verzahnen, dass ein Tanztheater entsteht“, erläutert Tanzpädagogik-Studentin Tabea Weinigk. „Anfangs haben wir einfach Ideen gesammelt, aufgeschrieben, was uns zum Thema Kommunikation einfällt. Erst dann haben wir den Körper einbezogen. Die Ideen auf dem Papier und unsere Bewegungen sollten sich mit einander verbinden, fließend in einander übergehen.“ Beispielsweise in Form vertanzter Redewendungen. – „Beide Beine in die Hand nehmen, etwas übers Knie brechen, die Hände im Schoß falten, sich mit dem Herzen öffnen… - Wir haben Redewendungen gesucht, die Körperteile beinhalten. Und wir haben diese Wendungen in tänzerische Bewegungen umgesetzt. Dabei sind ganz verschiedene, interessante Dinge entstanden“, so Tabea Weinigk.
Theaterpädagoge De Clercq: „hörgeschädigte Teilnehmer sind ganz besonders geschult in der Körpersprache“
Getanzte Begegnungen,
Monologe, Dialoge. - Heute, am vorletzten Projekttag, wird strukturiert. Morgen
soll es eine Aufführung geben – für Eltern und Unterstützer. Jeder Tänzer
bekommt seine Parts. Rollen werden verteilt. Projekt-Leiter Jan-Bart De Clercq
baut mit Hilfe farbiger Karten aus den gemeinsam entwickelten Szenen ein
kleines Tanz-Theaterstück. „Dialog Kombi“, „Dialog Tanz“, „Blick ins Publikum“,
„Fahrende Rolltreppe“ steht auf den farbigen Karten, die er für alle sichtbar
in geplanter Abfolge auf dem Fußboden auslegt. Dann wird unter fachlicher
Anleitung mal in kleinen Gruppen, mal gemeinsam gearbeitet, Schritt für Schritt
ein großes Ganzes zusammengefügt.
Nach dreieinhalb Stunden
intensiver Arbeit ist Mittagspause – und damit gute Gelegenheit, um mehr zu
erfahren. Die beiden Tanzpädagogik-Studentinnen Franziska Kusebauch und Tabea
Weinigk berichten mir, dass das Projekt zugleich das „Community-Dance-Projekt“
für ihr Studium sei. Die Idee von Community-Dance ist, dass jeder Mensch tanzen
kann. Dass man kein ausgebildeter Tänzer sein muss, um tänzerisch Ausdruck zu
erlangen.
„Wir haben sehr viel Glück gehabt mit diesem Projekt“, meint Tabea Weinigk. „Ich hatte zuvor noch nie mit Hörgeschädigten gearbeitet. Und es ist ein großer Unterschied. Die Jugendlichen sind sehr viel ruhiger. Sie hören zu, weil sie verstehen wollen. Und sie sind sehr motiviert. Erst hatten wir befürchtet, dass unser Konzept zu schwierig sein könnte und wir dann alles umschmeißen müssten. Aber das war völlig unbegründet. Wir haben fast alles gemacht, was wir auf dem Papier hatten. Für uns ist das ein großer Erfolg.“
„Schon in unseren vorangegangenen Projekten fiel mir auf, dass die hörgeschädigten Teilnehmer ganz besonders geschult in der Körpersprache, in Gestik und Mimik sind“, ergänzt Jan-Bart De Clercq. „Das ist etwas, was gehörlose Jugendliche den gleichaltrigen Hörenden voraus haben. Sie sind sehr ausdrucksstark in ihrer Gestik. Auch beim Theaterspiel und beim Tanz Impulse aufzunehmen, mit der Gestik, mit dem Körper zu improvisieren – all das können sie sehr gut.“
Genauso viel Spaß an Musik wie die hörenden Jugendlichen
Und wie ist es mit der Musik?
– „Da konnten wir gerade bei diesem Workshop feststellen, dass die
Musikwahrnehmung bei den hörgeschädigten Jugendlichen genau so ist wie bei den
anderen“, berichtet der Theaterpädagoge. „Sie bewegen sich genauso zu Musik.
Sie erkennen sie ebenso, haben genauso viel Spaß an Musik. Besonders witzig war
es nach der Arbeit, nach den Choreografien oder den Improvisationen. Man denkt,
jetzt sind sie erschöpft und brauchen eine Pause. Doch was
machen sie dann als
erstes? Schalten den Ghetto-Bluster an und tanzen… - Sie haben unglaublich Spaß
an Musik. Und man merkt, dass sie zu ihrem Alltag dazugehört.“
Sprachtherapeutin Dominique
Müller ergänzt: „Sicherlich gibt es auch Unterschiede beim Musikhören. So
konnten wir beim Projekt feststellen, dass es für die hörgeschädigten
Teilnehmer schwierig ist, melodiebetonte Musik, die keine deutlich erkennbare
rhythmische Struktur hat, wahrzunehmen. Aber die Freude, die diese Teilnehmer bei
Musik generell erleben, ist nicht anders als bei Normalhörenden.“
Am
Nachmittag folgt die Hauptprobe, zu der wir uns in der Probebühne der Semperoper
treffen. Kostüme werden verteilt. Neben schwarzen und grünen T-Shirts gibt es
Tücher, Hüte, Eimer – und Tanzsäcke, in die die Tänzer hineinschlüpfen, in
denen sie sich zu großen, tanzenden Rechtecken verwandeln.
Dann der erste Durchlauf des gesamten Stückes: Stampfende, springende, klatschende, rennende Tänzer füllen die Bühne, gehen ab, um einer weiteren Gruppe Platz zu machen, finden zusammen zum „Pulk“, der den selbstbewussten Blick ins imaginäre Publikum probt, räumen das Feld für einzelne Akteure. Gespielte Szenen, die aus einem Krimi, einem Action-Film und dann wieder aus einer TV-Romanze entsprungen sein könnten. Es geht um Liebe und Hass, um Angst, Rache, Gewalt, Einsamkeit, Verzweiflung und Aufbegehren. Es wird gelacht, geredet und dennoch geschwiegen. Wie in einer Collage folgt Szene auf Szene, begeben sich die Akteure in immer neue Beziehungen und Konflikte, um sie im nächsten Moment wieder zu verlassen, das Geschehene aufzulösen in Ironie. Es wird gestritten, gedroht, gefleht, gemordet. Es wird gespielt und immer wieder getanzt: „fahrende Rolltreppe“, „Ski-Kombi“, „vertanzte Sprüche“. Zum Abschluss treten sie alle noch einmal an den Bühnenrand. Es folgt ein letzter „Blick ins Publikum“. Und dann natürlich eine „coole Pose“…
Organisatoren und Pädagogen sind sich schon jetzt sicher: Die morgige Aufführung muss ein voller Erfolg werden. Doch nach acht Stunden Workshop ist nun Ausruhen angesagt. Gut möglich, dass das heute Abend in der Jugendherberge schon wieder ganz anders aussieht…
Martin Schaarschmidt
Stimmen der Teilnehmer