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28.06.2020 - Manche ticcen einfach etwas anders

Die Grundlagen von Tic-Störungen und Tourette Syndroms müssen neu gedacht werden.

Die von der DFG geförderte Forschungsgruppe „Kognitive Theorie des Tourette Syndroms – Ein neuer Ansatz“ untersucht seit 2018 die neurobiologischen Grundlagen von Tic-Störungen & Tourette Syndrom. Leiter der Gruppe sind Prof. Dr. Christian Beste, Kognitive Neurophysiologie, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden und Prof. Dr. Alexander Münchau vom Institut für Systemische Bewegungswissenschaft der Universität zu Lübeck. Erste Studienergebnisse Ihrer Forschungsarbeit deuten nun auf ein notwendiges Umdenken im Verständnis des Störungsbilds hin. 

Etwa 15 Prozent der Kinder zwischen 6 und 10 Jahren sind von einer meist milden Tic-Störung, dies kann ein einfaches Blinzeln oder Räuspern sein, betroffen. „Seit dem Kindergarten und der frühen Schulzeit ist mir bewusst, dass ich bestimmte Dinge habe“, sagt Thomas, der heute beruflich aktiv ist und es gut schafft, seine spontanen Bewegungen zu verbergen. „Das Augenzwinkern war eigentlich das Erste, was da war“, erinnert er sich. „Gerade als Kind, da hat man mir immer gesagt, der ist nervös. Und meine Mutter hat dann noch bemerkt, ja wenn das nicht besser wird, dann müssen wir mal in die Psychiatrie. Das macht natürlich Angst.“ Mittlerweile ist das über 20 Jahre her.

Bis heute fehlt ein übergeordnetes Konzept zum Verständnis der Ursachen dieser Störung. Die Forschergruppe setzte sich daher zum Ziel, das Störungsbild alters- und fächerübergreifend zu untersuchen. Dazu werden Erkenntnisse aus Neurologie, Psychiatrie, Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, sowie kognitiver und Entwicklungspsychologie herangezogen, um im Rahmen eines kognitiven Modells die Neurobiologie von Tics und deren Bedeutung für die motorische Entwicklung systematisch zu analysieren.  Ein Kernpunkt und wichtigste Fragestellung dabei „Sind Tic-Störungen reine Bewegungsstörungen?“ 

Nun gibt es erste Ergebnisse, welche die bisherige Grundannahme, dass Tic-Störungen und Tourette Syndrom eben „reine Bewegungsstörungen“ seien, infrage stellen. Die neuesten Erkenntnisse ihrer Untersuchungen haben die Wissenschaftler nun im renommierten Neurologie-Journal „BRAIN“ veröffentlicht. Darin wird die Hypothese bestätigt, dass Patienten mit Tic-Störungen eine viel stärkere Kopplung zwischen Sinneseindrücken und motorischen Reaktionen vornehmen. Reine motorische und rein sensorische Prozesse spielen dabei eine klar untergeordnete Rolle. Denn nur die enge Kopplung von Wahrnehmung und Motorik kann den Schweregrad von Tics erklären, rein motorische oder sensorische Prozesse können dies nicht. Vereinfacht bedeutet das: Das Störungsbild ist nicht einfach durch eine Störung der Motorik der Betroffenen verursacht.

Dies zeigt, dass die Annahmen zu den Grundlagen von Tic-Störungen und des Tourette Syndroms neu gedacht werden müssen. Bisher dominiert die Ansicht, dass Tic-Störungen mit Defiziten in der Unterdrückung von motorischen Reaktionen einhergehen und diese Defizite der klinischen Symptomatik zugrunde liegen. Die aktuellen Studienergebnisse untermauern hingegen eine neue Sichtweise auf Tourette, die jetzt davon ausgeht, dass eine überaus starke Kopplung von Wahrnehmungseindrücken und Handlungen dem Tourette Syndrom zugrunde liegen. Insofern unterstützen die Befunde die Notwendigkeit einer Abkehr von einer rein defizitorientierten Sichtweise auf das Tourette Syndrom, welche Forschung und klinische Versorgung nach wie vor bestimmt.

Die Ergebnisse könnten weitreichende Folgen für die Behandlungsmöglichkeiten von Tic-Störungen und Tourette Syndrom haben: Hier haben sich in den letzten Jahren zunehmend mehr verhaltenstherapeutische Ansätze etabliert. Diese haben zum Ziel, dass die Patienten lernen zu erkennen, welche Bedingungen (bspw. Auslöser in der Umwelt) häufig mit dem Ausbruch von Tics assoziiert sind. Ziel der verhaltenstherapeutischen Behandlung ist es, Tics „umzuleiten“, d.h. sie versuchen zu kaschieren und in sozial weniger auffällige Verhaltensweisen umzulenken. Diese Therapieansätze entbehrten bisher einer soliden konzeptuellen Grundlage und waren lediglich klinisch-phänomenologisch motiviert. Die neu gewonnenen Erkenntnisse stellen solche Behandlungsansätze auf eine solide Basis, die es erlaubt, zielgerichtet bestehende verhaltenstherapeutische Ansätze zu verbessern.

Thomas verbindet als Patient damit auch eine Hoffnung: „In der Gesellschaft ist ja immer das akzeptiert, was vermeintlich normal ist und die Makel der anderen sind immer das Problem. Aber gerade Leute mit einer Tic-Störung haben damit oftmals das geringere Problem, als das Umfeld. Und deshalb denk ich, müsste man normaler damit umgehen“.

https://tu-dresden.de/med/

Veröffentlichung unter DOI: 10.1055/a-1096-9918