Der Weg der Protonen
Bewegen sich Protonen durch Gewebe, übertragen sie ihre Energie kontinuierlich in kleinen Schritten. Am Ende ihres Weges ist ihre Geschwindigkeit so gering, dass sie vollständig gestoppt werden und dabei ihre gesamte restliche Energie an das Gewebe übertragen. In diesem Bereich erzielen sie somit ihre maximale Wirkung.
Die Reichweite der Protonen kann über ihre Geschwindigkeit, das heißt über ihre Energie, variiert und dadurch individuell an die Tiefe des Tumors angepasst werden. Durch eine Überlagerung von Protonen unterschiedlicher Energien kann auch ein in der Tiefe ausgedehnter Tumor gleichmäßig bestrahlt werden. Im Vergleich dazu geben die konventionell eingesetzten Photonen – hochenergetische Röntgenstrahlung – ihre Energie kontinuierlich an das Gewebe ab, mit nur einem geringen Maximum in oberflächlichen Tiefen. Wird also mit Photonen aus nur einer Richtung bestrahlt, entfaltet sich die Wirkung der Photonen im gesamten bestrahlten Bereich und das Maximum liegt im Allgemeinen nicht in der Tiefe des Tumors. Erst durch die Überlagerung von mehreren Bestrahlungsfeldern aus verschiedenen Richtungen kann der Bereich der maximalen Wirkung auf die Tumorposition angepasst werden. Durch die physikalisch vorteilhaftere Energieabgabe der Protonen kann bereits mit ein oder zwei Bestrahlungsfeldern eine präzisere Bestrahlung erfolgen und das vor und hinter dem Tumor gelegene Gewebe kann besser geschont werden.
Trotz der physikalisch ungünstigeren Energieabgabe der hochenergetischen Röntgenstrahlung an das Gewebe hat sich die konventionelle Strahlentherapie bewährt. Durch stete technische Weiterentwicklungen hat sie sich zu einer hochpräzisen Therapie etabliert. Für eine Vielzahl an Krebserkrankungen liegen hervorragende klinische Ergebnisse vor.
Es wird jedoch erwartet und konnte bereits teilweise gezeigt werden, dass in verschiedenen Fällen die herausragende Energieabgabe der Protonen zu einer weiteren Verbesserung führen kann.
Doch zur Erzeugung, Beschleunigung und gezielten Führung der Protonen zum Patienten wird neben ausreichend Platz und fortschrittlichster Technologie natürlich auch jede Menge finanzieller Mittel benötigt, weshalb sich nur an sehr wenigen Orten der Welt Protonentherapieanlagen befinden.
In Dresden stehen rund 700 Tonnen Hochtechnologie bereit, um die physikalische Überlegenheit der Protonen gegenüber Photonen in einen klinischen Erfolg umzusetzen. Allein das Herzstück der Anlage –
der Zyklotron genannte Protonenbeschleuniger – wiegt 200 Tonnen. In dem Megamagneten werden die Wasserstoffionen, also die Protonen, auf ungefähr 180.000 Kilometer in der Sekunde – das sind 60 Prozent der Lichtgeschwindigkeit – beschleunigt.
Am Anfang des Protonenstrahls steht die Ionenquelle: Hier sorgen 1.000 Volt dafür, dass Wasserstoffmoleküle in Elektronen und Protonen getrennt, das heißt ionisiert werden. Die für die Bestrahlung nötige Menge an Wasserstoff ist wesentlich geringer als die Gasmenge einer Kohlensäureperle in Mineralwasser. Die Ionisierung des Wasserstoffs findet in der Mitte des Zyklotrons statt. Dieser runde Elektromagnet besteht aus zwei übereinanderliegenden Hälften: Dazwischen befindet sich ein schmaler, luftleerer Spalt von wenigen Zentimetern. In diesem Vakuum werden die aus dem Wasserstoff herausgelösten Protonen beschleunigt.
Durch den Elektromagneten wirken auf die Protonen starke Kräfte, die sie auf eine Kreisbahn zwingen. Bei jeder Runde durchs Zyklotron kommen die Protonen an einem Beschleunigungsspalt vorbei. Dank der dort anliegenden Spannung von 50.000 Volt nimmt das Tempo der Teilchen zu. Durch diesen Energieschub erhöht sich ihre Geschwindigkeit und vergrößert sich der Kreisradius. Durch den kontinuierlichen Fluss der Protonen aus der Ionenquelle entsteht ein Wirbel von Milliarden Teilchen. Am Rand der Kammer sorgt das elektrische Feld eines Kondensators dafür, dass die Protonen aus dem Zyklotron gelenkt werden. Die Teilchen erreichen hier ihre Maximalgeschwindigkeit von 180.000 Kilometern pro Sekunde. Mit diesem Tempo könnten die Protonen mehr als 30 Zentimeter tief in den Körper eindringen. Oft aber liegt der Tumor als Ziel der Behandlung nicht so tief. Deshalb bremsen die Physiker den Teilchenstrahl im Energieauswahlsystem. Je nach benötigter Energie des Strahls werden die Protonen durch eine Graphitscheibe geschossen. Deren Dicke entscheidet darüber, wie stark das Tempo gebremst wird. Am Ende steht ein etwa bleistiftdicker Strahl mit der richtigen Energie. Damit der Strahl auch nach 50 Metern und weiteren Kurven noch genauso gebündelt ist, passiert er eine Perlenkette tonnenschwerer Magnete. Der Strahl wird so nicht nur zum Behandlungsplatz geführt, sondern auch in einen Experimentalraum. Dort erforschen Wissenschaftler des „OncoRay – Nationales Zentrum für Strahlenforschung in der Onkologie“ die Wirkung der Protonen in vitro oder in vivo und befassen sich damit, wie sich die Intensität der Protonen während der Bestrahlung messen lässt. Um die Stelle im Körper zu erreichen, muss der Protonenstrahl exakt zum Ziel geleitet werden. Dies erfolgt über die Gantry, eine drehbare Stahlkonstruktion, die den Protonenstrahl präzise aus jeder beliebigen Richtung zum Patienten lenkt. Zum Schluss passiert der Protonenstrahl die Nozzle. Hier wird er konfiguriert. Davor sind die Protonen scharf gebündelt; der Strahl hat lediglich einen Durchmesser von einigen Millimetern. Das ist zu dünn, um große Tumoren flächendeckend bestrahlen zu können. Nun kann der Strahl durch ein spezielles Foliensystem bis zu 24 Zentimeter aufgeweitet werden. Damit er ausschließlich den Tumor trifft, werden Blenden aus Messing verwendet. Zu ihrer Herstellung stehen im Gebäude der Protonentherapieanlage computergesteuerte Fräsmaschinen. Alternativ zur Aufweitung des Strahls kann in der Dresdner Anlage auch das aktive Scanning-Verfahren genutzt werden. Hierbei wird der Protonenstrahl durch elektromagnetische Felder abgelenkt. Er tastet den Tumor Zeile für Zeile und Schicht für Schicht ab. In welcher Tiefe der Strahl seine volle Wirkung entfaltet, wird durch die Geschwindigkeit der Teilchen gesteuert. Die aus der Nozzle austretenden Protonen werden schließlich mit den vorab für den Patienten kalkulierten Daten abgeglichen. Erst dann tritt der Strahl durch ein das Vakuum abschottendes Fenster aus Kapton-Kunststoff ins Freie.